Ein Haus, in dem niemand mehr wartet. Bortom Åa, Fågelsjö, Dalarna, Schweden

Als ich Studentin in Schweden war und in Stockholm wohnte, war ich viel unterwegs. In jedem Stadtteil, in vielen Wäldern, an vielen Seen, auch einmal in Småland, mit der Fähre in Helsinki und Turku, und zu Besuch in Uppsala. Aber ich habe nie einen größeren Ausflug gemacht, keine kleinen Ferien, denn ich wollte ja diese andere, neue Stadt von allen Seiten und komplett kennenlernen. Keine Zeit für extra-Touren. So kam ich zwar mit jede Menge Stockholm-Kenntnis (und zwei Hauptseminarscheinen) in der Jackentasche, aber ohne Sommerhaus- und Reise-Geschichten nach München zurück.

Ein Glück, dass eine Freundin seit letztem Herbst Sommerhaus-Besitzerin in der mittigsten Mitte von Schweden, am südlichen Zipfel von Jämtland, ist, und ein Glück, dass ihr Haus ein ehemaliges Bahnhofshaus ist, vor dessen Türe man bequem mit dem Zug ankommen kann. Doch zu diesem Glück komme ich in einem gesonderten Blogeintrag in den nächsten Tagen. Heute möchte ich Euch vom Beginn der Reise erzählen, die mich Ende Juli fast überrascht hat. Gerade schwitzte ich noch in der Münchner Hitze an der Nähmaschine, brachte Briefe und Pakete mit Sommer-krambeuteln zur Post und wenig später fand ich mich in Arlanda (ein Flughafen bei Stockholm) wieder und sah Stockholm bei Nacht, seit zwei Jahren das erste Mal wieder. Und wie es so ist in einer Stadt, die man ausführlich durchwandert hat: Ohne auf die Straßennamen und Himmelsrichtungen achten zu müssen, fanden die Füße den Weg zum Nachtquartier.

Die wenigen Stunden zwischen diesem frühen Urlaubs-Aufwachen, wenn man nicht mehr still liegen kann, weil der ganze Körper an die Luft will, den neuen Ort erlaufen will, sehen will, was da draußen so los ist, und der Abfahrt des Zuges Richtung Norden, sah ich die Sonne über den Häusern warm werden, die Menschen aus ihren Haustüren gehen, zielgerichtet, mit dem Kaffeebecher in der Hand, vorfreudig auf den neuen Tag. Ich saß mit meiner Kanelbulle auf einer Treppe in der Sonne und war einfach nur froh, endlich mal wieder hier zu sein.

Schweden erstaunt mich bei jedem Besuch aufs neue. Mittlerweile – davon konnte man damals während des Auslandssemesters nur träumen – ist an jedem Bahnhof kostenloses Wifi verfügbar, genauso wie im Bus vom und zum Flughafen. Das mag unwichtig erscheinen – denn wer braucht im Urlaub schon Internet – aber in einem anderen Land schnell ein Wort oder eine Ankunftszeit nachschlagen zu können ohne teure Gebühren zahlen zu müssen ist schon extremer Luxus.

Nach ein paar Stunden Fahrt und einmal Umsteigen landete ich in Mora, der kleinen Stadt am Siljan-See, wo jedes Jahr der Vasalauf endet. Mora ist außerdem auch der Startpunkt einer Bahnlinie, die mich durch die nächste Woche ständig begleitet hat, und die mir gezeigt hat, wie schnell Bahnlinien an Herzen wachsen können.

Die Inlandsbahn führt seit den 1930ern von hier bis nördlich des Polarkreises nach Gällivare, wo sie an die Erzbahn anschließt, die Güter zum eisfreien norwegischen Hafen Narvik transportierte. Heute fahren hauptsächlich Touristen die zwei Tage dauernde Strecke bis in den Norden. Oder sie fahren nur eine Teilstrecke, wie ich. Im Zug (der einen Wifi-Router mit sich führt) wird man als Fahrgast bestens versorgt. Hier und da hält er auf freier Strecke an, dann werden geschichtliche Fakten zu dieser und jener Brücke, zu Wegsteinen oder Besonderheiten im Wald erklärt. Bei einem 20 minütigen Halt sind die Fahrgäste aufgefordert, dem Zugbegleiter zur Besichtigung einer Bärenhöhle zu folgen, bei einem anderen Stopp gibt es Kaffee, kalte Getränke und die besten Kanelbullar der Welt.

An diesem Ort verließ ich den Zug und machte mich auf den ca drei bis vier Kilometer langen Weg durch den sumpfigen Wald zu einem Ort namens Fågelsjö. Dort lebte seit dem 17. Jahrhundert eine finnische Büchsenmacher-Familie, die wegen ihrer Profession gut zu Geld gekommen war und ein schickes zweistöckiges Haus in der Nähe des Fågelsjö bewohnte. Auf einer Postkarte, die sie aus Amerika erhalten hat, war ein Haus im amerikanischen Stil abgebildet, und was liegt da näher, als sich ein ebensolches Haus zu wünschen und in den Garten zu bauen. Am Weihnachtstag 1910 fand der Umzug statt, aber nicht mit Sack und Pack, sondern ganz gemütlich zu Fuß in das „‚Amerika-Haus“, das komplett neu ausgestattet bezogen werden konnte. Welch ein Glück, dass diese Familie so vermögend war, denn sonst hätten wir heute nicht die Chance, ein original erhaltenes herrschaftliches Haus im Zustand des beginnenden 20. Jahrhunderts („Gammelgård“, also „alter Hof“) begutachten zu können. Im Rahmen einer Führung sah ich die große Küche, lernte, woher das Sprichwort „den Löffel abgeben“ kommt, kroch enge Treppen hinauf und hinunter, verglich den Wert eines Kachelofens mit dem eines Pfarrers und fand Löcher im Boden, die dort aber hingehörten.
„Bortom Åa“ („hinterm Bächlein“) ist seit wenigen Jahren Weltkulturerbe und ein wundervoller Platz am See. Nach der Führung saß ich noch ein wenig im Garten, mit Kuchen aus dem Café, das sich jetzt im Amerika-Haus befindet, und lauschte den Musikern, die für die am Abend auf dem Gelände stattfindende Hochzeit probten.

So sollte ein Urlaub immer beginnen – mit geschichtsträchtigen Bahnstrecken, sumpfigen Wäldern und roten Häusern am See. Oder, was meinst Du?

 

 

 

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